Siegfried Nucke
Geboren in Nordhausen. Abitur in der Salzmannschule Schnepfenthal. Studium Germanistik und Geschichte in Potsdam. Fernstudium am Leipziger Literaturinstitut 1981–1984. Lehrer in Waltershausen von 1978-1985. 1985 bis 2018 in Gotha. Seit 1983 hauptsächlich Hörspielautor, in letzter Zeit tritt er auch als Erzähler in Erscheinung. Bisher über 100 Einzelveröffentlichungen von Gedichten, Kurzprosa und Aphorismen in Literaturzeitschriften, kulturellen Wochenblättern und Anthologien. Er gründete 2015 in Bad Tabarz den Verlag Tasten & Typen, den er seitdem leitet.
Mitglied des Schriftstellerverbandes (VS) und der Literarischen Gesellschaft Thüringen.
Klassenstufen: 10. Klasse, 6. Klasse, 7. Klasse, 8. Klasse, 9. Klasse, Oberstufe
Themen: Alltag und Familie, Angebot Schreibwerkstätten, Regionales und Heimat
Elemente/Werkstätten: Erzählen, Werkstatt: Hörspiel, Werkstatt: Schreiben
Kontaktdaten
Anschrift: Auestraße 7, 99891 Tabarz
Telefon: 036259 30837
E-Mail: autor.nucke@t-online.de
Themenangebot
Neben Lesungen von Prosatexten, Vorstellen von Hörspielen bzw. deren Prosafassungen ist es möglich, über das Entstehen des Sachbuches „Zeitreise durch Thüringen“ zu erzählen und dabei die Geschichte des Landes näher zu bringen (geeignet ab Klasse 6).
Für Jugendliche ab 16 Jahre eignet sich „Nur gereimt. Nicht gelogen“. Ein Monolog, der aus der Sicht einer alten Frau die Geschichte einer Vertreibung aus einem Grenzdorf der DDR erzählt.
„216 Schlüssel“ – ein Dorf muss dem Tagebau weichen. Werkstattarbeit mit jungen Leuten.
Werkstattarbeit mit jungen Leuten: Kreatives Schreiben, Hörspiel entwickeln.
Bibliographie
Bücher:
„Rotkäppchen spricht“ Begleitbuch zur Ausstellung der Bilder von Julia Kneise, Texte zu den Bildern von Siegfried Nucke, 2022.
„216 Schlüssel – Eine Kindheit“, Verlag Tasten & Typen, Tabarz 2015 als eBook und 2016 als Print.
„216 Schlüssel“, Erzählung, Verlag Tasten & Typen 2015.
„Zeitreise durch Thüringen“, Ausflüge in die Vergangenheit, Gudensberg-Gleichen, 1997.
„Zeitsprung“, Foto-Text-Band, zusammen mit dem Eisenacher Fotografen Ulrich Kneise, Leipzig, 1994.
Hörspiele:
„Nur gereimt. Nicht gelogen“, Hörspiel, 1996.
„Elche auf dem Müll“, ORB Ursendung, 1993.
„Die Zauberer von Mohonia“, Hörspiel, 1988.
„Zu Hause wartet Sven“, Ursendung, 1983.
Beiträge:
„Nicht schon wieder Monster, sagte die Feuerwanze“, Anthologie „Wer will schon in den Süden“, Illustration Martin Schink, Hg. FBK für Thüringen e.V., Verlag Tasten & Typen, Bad Tabarz, 2021.
„Shooting oder Der Sturz vom Krötenkopf“, Anthologie „Bis bald im Wald“ 2015.
„In Wendezeiten“, Texte des Thüringer Literaturwettbewerbs „Gestern – Heute – Morgen“ von 1995, herausgegeben von Siegfried Pitschmann, Jena, 1997.
Über 100 Einzelveröffentlichungen von Gedichten, Kurzprosa und Aphorismen in Literaturzeitschriften, kulturellen Wochenblättern und Anthologien.
Auszeichnungen
Hans–im-Glück-Preis Limburg (3. Preis), 2000.
Thüringer Literaturwettbewerb „Gestern – Heute – Morgen“ (2. Preis), 1995.
Anerkennungspreis der Arbeitskammer Kärnten/Klagenfurt, 1995.
Kinderhörspielpreis des MDR-Rundfunkrates (3. Preis), 1994.
Preisträger beim Hörspielpreis des ORB, 1993.
Tuttlinger Literaturpreis für unveröffentlichte Prosa (3. Preis der Jury, Publikumspreis), 1991.
Leseprobe
aus „216 SCHLÜSSEL“
Eine Kindheit
„Meine Schwester fragte, ob der Morgen kommen werde. Ich antwortete ihr, er werde bestimmt kommen, da sei ich sicher. „Wie wird er aussehen?“, fragte sie. „Ich weiß es nicht“, antwortete ich, aber da war sie bereits eingeschlafen.“ Mark Helprin, Eine Geschichte aus Vermont
Zuerst fuhr Jakob mit der Schuhspitze in der Fuge zwischen den Pflastersteinen entlang. Der grauschwarze Sand schob sich wie eine magere Bugwelle vor den Schuh, bis sie zwischen Kieseln verschwand. Jakob nahm einen Stock und kratzte eine tiefere Spur aus. Das Holz schabte zwischen den Steinen. Immer schneller umkreiste Jakobs Stock den Stein, bis der eine Insel geworden war, die sich aus dem Meer erhob, bis aus der Insel der wacklige Zahn eines Mammuts geworden war, den Jakob ausgraben konnte.
Jakob hob den Stein hoch und betrachtete ihn von allen Seiten.
„Willst du den verkaufen?“, fragte René.
Jakob sah ihn von unten an. „Du willst ihn wohl mitnehmen, du Penner?“, fragte er den anderen. Dabei nahm er seinen Stock wie ein Messer in die Faust und schabte einen weiteren Stein frei.
„Ist doch sowieso egal“, sagte René. „Bald kommt der Bagger und schrabbt alles weg. Ratzekahl.“
René nahm ein Brett in die Hände und schob es über die Steine. Rattazong! Rattazong! Jakob schlug mit der Faust nach dem Brett. Krachend flog es auf die blauen Steinbuckel.
„Morgen kommt der Möbelwagen“, sagte René. „So ein Riesending ist das!“
Seine Arme wiesen von einem Ende des Marktes bis zum anderen. Jakob zeigte ihm einen Vogel.
„Ich bleibe hier“, sagte Jakob. „Ich habe dem Opa versprochen, dass ich jedes Jahr seine Bäume schneide.“
„Dein Opa ist doch schon längst im Grab“, antwortete René.
„Das merkt der doch gar nicht.“
„Aber wenn sie ihn nach Kolzau bringen, dann muss er hier über den Markt“, sagte Jakob. „Dann fahren sie ihn hier drüber, dann die Hauptstraße herunter, am abgeräumten Feld vorbei nach Kolzau. Da müssen sie an unserem Garten vorbei.“
René nahm einen ausgegrabenen Stein, legte das Brett darüber und versuchte zu wippen.
„Die stecken ihn in einen neuen Sarg, da kann er doch gar nichts sehen“, sagte René, während er von einer Seite auf die andere kippelte.
„Wir haben ein Haus in Kolzau“, sagte Jakob.
„Bei deinem Opa seinem Grab!“, antwortete René mit heruntergezogenen Mundwinkeln.
„Du Arsch!“, entgegnete Jakob. „Hau ab zu deinem Vater.Von mir kriegst du keinen Stein.“
„Mein Vater hat Arbeit am Meer.“
„Meer!! Irgend so eine blöde Stadt.“
„Flensburg.“
Jakob spuckte aus und stieß René gegen die Brust. René grinste und schaufelte mit der Hand Sand aus dem Loch im Pflaster.
„Solche Drecksteine von so einem Dreckplatz nehmen die dort sowieso nicht“, sagte René. „Und wenn es zehnmal ein Marktplatz war.“
Jakob stand auf und drückte noch einen Stein aus dem Pflaster und hob ihn hoch.
„Meinst du?“, fragte er zweifelnd. „Mein Vater hat gesagt, die in Flensburg machen aus Scheiße Gold.“
„Dein Vater!“, höhnte René. „Was weiß denn der. Geht ihr nach Flensburg oder wir?“
„Ich bleibe hier“, antwortete Jakob.„Wir ziehen nach Kolzau.“
„Und wenn ihr wieder aus Kolzau raus müsst?“, fragte René „Mein Vater hat gesagt, das dauert keine zwanzig Jahre, dann ist Kolzau dran.“
„Dein Vater ist in Flensburg und erzählt nur Scheiße.“
Jakob ließ sein Holzmesser zwischen den Steinen stecken. Er knurrte: „Hier ist es jetzt nämlich bald vorbei mit so was.“ René zuckte mit den Schultern. „Aber jetzt müsst ihr nach Kolzau ziehen“, sagte er.
Jakob spritzte mit seiner Hand Sand in das Gesicht von René.
„Du bist ein Schwein!“, schimpfte René und wischte sich die Körnchen von der Haut.
Es war heiß geworden auf dem Platz. Die Sonne hatte sich durch die Wolken gedrückt. Sogar durch die alte Kastanie vor der Ratsschenke schien ihr Licht.
„Gehen wir mal gucken, ob jemand in den Zimmern ist?“, fragte René.
„Ist gefährlich!“, antwortete Jakob. Er nahm eine zweite Hand voll Sand und warf sie gegen die Wand der Schenke. Die Blasen auf dem Putz blieben heil.
„Pah! Gefährlich!“, sagte René. Er winkte ab.
„Wir nehmen die Steine mit!“, entschied Jakob.
Dann gingen sie los. Als sie vor der Schenke standen, überlegten sie einen Augenblick, ob sie eine Scheibe einwerfen sollten.
„Erst gehen wir rein!“, sagte Jakob. „Nicht, dass wir einen an den Kopf treffen.“
„Um die Zeit ist keiner da“, widersprach René. „Nur Fidschis noch und nackte Weiber.“
Jakob tippte sich an den Kopf. „Hier sind die Fidschis schon vor drei Wochen raus. Die sind jetzt alle weg. Die sind sicher im Westen.“
René stieß die Tür auf. „Was sollen die denn im Westen?“, fragte er. „Mein Vater hat gesagt, die sind nach Hause.“Jakob stand unschlüssig an der Tür. „Ich muss jetzt eigentlich nach Hause“, sagte er.
René ging in den dunklen Flur, in dem es feucht und schimmlig roch. „Du hast bloß Angst vor den nackten Weibern!“, widersprach er. „Und außerdem – nach Hause! Kolzau. Das ist doch das Letzte.“
„Wir ziehen erst nächste Woche um“, antwortete Jakob.
René winkte ab. „Los jetzt. Rein!“, sagte er.
Jakob und René gingen zusammen durch den Flur und blickten in die Gaststube. An den Wänden klebten riesengroße Bilder mit nackten Frauen.
„Mann!“, sagte René. „Mann!“
Jakob blieb stehen und blickte abschätzig. „Mein Vater hat gesagt, Natur ist besser“, erwiderte er.
„Wieso?“, fragte René.
„Ist so!“, antwortete Jakob.
Über der Theke summte ein dicker Brummer. Nach jeder Runde stieß er gegen eine Fensterscheibe. Die Jungen sahen sich kurz an und wogen ihre Steine. Dann zerbrachen klirrend zwei Scheiben.
„Sauhunde, verfluchte!“, schimpfte eine Stimme auf der Straße. „Euch kriege ich! Ich kriege euch alle!“
Jakob und René rannten durch den Flur in den schmalen Hof und sprangen neben den Toiletten über die Mauer. Noch zwei Schritte und sie verschwanden in den Holundersträuchern.
„Das war knapp!“, keuchte Jakob. „Ich hab’s doch gewusst, dass das schiefgeht.“
„Das war der Rassler!“, antwortete René. „Der bringt alle Kinder um.“
„So ein Scheiß!“, versetzte Jakob. „Tobi ist lieb.“
René sah Jakob grinsend an. Jakob biss sich auf die Zunge. Aber es war gesagt.
„Lieb!“, wiederholte René. „Liiieb!“ Er zog das Wort in die Länge. „Du hast sie ja nicht mehr alle. Der Rassler ist bescheuert. Den nehmen sie nicht mal in Kolzau.“
„Der Rassler hat mir gezeigt, wie man Bäume schneidet“, verteidigte sich Jakob. „Er war Opas bester Freund.“
Na und!“, sagte René. „Trotzdem ist er ein alter Stinker.“
„Der Rassler riecht nur wie das Haus, wo er drin ist“, sagte Jakob.
René stand auf. „Stinker bleibt Stinker“, sagte er. „Und jetzt gehen wir.“
Die beiden Jungen krochen aus dem Versteck und schlichen zurück auf den Marktplatz.
„Er ist weg“, sagte Jakob. „Bestimmt ist er in die Häuser gegangen und sammelt die Schlüssel ein.“
René grinste.
Die beiden Jungen liefen zur Kastanie. „Im Herbst holen wir die Dinger runter“, sagte Jakob.
„Im Herbst bist du in Kolzau!“, widersprach René. „Da ist nichts mehr mit Kastanien. Und hierher kommst du auch nicht mehr. Und der Rassler ist auch verschwunden.“
„Mein Vater hat gesagt, dass sie vielleicht erst im Frühling hier anfangen wollen.“
René winkte ab. „Die kommen ganz bald“, sagte er. „Das geht nämlich jetzt ganz anders. Wenn die sagen, die kommen, dann kommen die und schrabbern das ganze Dorf ab. Die wollen an die Kohle ran.“
Jakob steckte die Hände in die Hosentaschen. „Dann kommen sie eben. Wir sind dann in Kolzau.“
„Und was macht ihr mit den Schlüsseln?“, fragte René.
„Ich weiß nicht“, antwortete Jakob. „Ich glaube, dass Vater die Schlüssel stecken lässt.“
René nickte. „Wir schließen auch ab und lassen die Schlüssel dran.“
Jakob und René schwiegen und blickten über den Platz.
„Der Rassler hat ein Schlüsselbund, das ist größer als ein Fußball“, sagte Jakob schließlich.
„Mir wäre das zu schwer“, erwiderte René. Er hob einen der Steine auf, die sie durch das Fenster geworfen hatten. Jakob nahm den anderen in die Hand. „Die Schlüssel sind bestimmt schwerer als so ein Stein“, sagte er.
„Ist doch sowieso nur Müll“, antwortete René und ließ den Stein fallen.
„Ich nehme meinen mit“, beschloss Jakob. „Wir haben zu Hause eine Waage.“
René blickte Jakob an. „Und was hast du davon?“, fragte er. Jakob zuckte mit den Schultern. Dann verließen die Jungen den Markt.